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Fluch oder Segen? Die Debatte über die Enthüllungsplattform Wikileaks ist voll entbrannt.

© AFP

Wikileaks-Debatte: Wir informieren uns zu Tode

Totale Offenheit war bisher reine Theorie. Wikileaks will sie zur Praxis machen. Aber die Enthüllungsplattform weckt damit nur eine naive Hoffnung.

Das ist doch ganz einfach, sagt mein Sohn mitten im hitzigen Streit, Wikileaks-Gründer Julian Assange hat jetzt den Status von Robin Hood und ihr habt verloren.
Das ist wahr, nachdenkenswert und bedenklich. Wahr ist, dass wir, die öffentlichen Akteure meiner Generation (Jahrgang 51), demnächst einpacken werden. Da wir uns eindeutig mitten in einem gewaltigen Umbruch befinden, werden wir rabiater beiseitegeschoben, als uns lieb ist. Selbst mit reichlich Erfahrung in Sachen Vatermord ausgestattet, verbinden unsere Abwehrstrategien den erhobenen Zeigefinger mit elastischer Anpassung nach dem Motto: Hier bloggt der Chefredakteur. Nachdenkenswert und beachtlich ist das in der Assange-Solidarität unverkennbare Bedürfnis nach einem Robin Hood. Sieh da, ein Held mit einer Idee in einer Welt, die doch alle Utopien hinter sich gelassen hat. Bedenken stellen sich ein, weil bisher noch jede Revolution auch mit Dingen aufgeräumt hat, die man sich danach zurückgewünscht hat. Und hat nicht die jüngste Geschichte gerade ein Beispiel dafür geliefert, wie Utopiemüdigkeit anfällig machen kann für die Verheißungen des bloß Neuen? Das Paradigma von der grenzenlosen „Freiheit der Märkte“ hat direkt in die Finanzkrise geführt.

Gegen Wikileaks kann man nur sein wie gegen die Dampfmaschine oder den Buchdruck. Nämlich gar nicht. Es gibt kein Zurück hinter die technologische Revolution. Kritisch gegenüber Wikileaks und der „Freiheit der Netze“ muss man umso mehr sein. Das Internet verändert die Öffentlichkeit durch Menge und Tempo der Verbreitung und Zugänglichkeit von Informationen, und zwar qualitativ. Mental herrscht eine Goldgräberstimmung, die der journalistischen Grundtugend der Skepsis entgegensteht.

Dieses Internet, zeigen die jüngsten Wiki-Enthüllungen, reißt uns vorerst mehr mit, als dass wir es gestalten. Ihr aufklärerischer Effekt erweist sich als schwach, nicht, weil es an interessanten Enthüllungen mangelte. Sie werden erschlagen und verschlungen von der schieren Menge altbekannter, banaler und unverantwortlicher Mitteilungen, die allesamt nach den Aufmerksamkeitsregeln einer Medienwelt präsentiert werden, in der das Politische in eine Randlage geraten ist. Diese Regeln sind älter als Wikileaks, knallhart ökonomisch motiviert und weitgehend verantwortlich für die Krise der demokratischen Öffentlichkeiten. Denn sie unterwerfen Politik der Logik der elektronischen Bildmedien, die Schlagzeilen vor das Wort, die Person vor die Sache, den Skandal vor die Wahrheit stellen. Nicht an das Internet, Blogger, Twitterer oder Wikileaker hat der politische Journalismus seine Deutungshoheit verloren, sondern an das große Rauschen, in dem – eine Erkenntnis des vergangenen Jahrhunderts – Pamela Andersen immer attraktiver ist als Bill Clinton.

Wirklich neu ist die Metabotschaft hinter den 251 287 Dokumenten. Öffentlichkeit gehört zur Volksherrschaft wie das System der Checks and Balances, das Macht auf Zeit durch Regeln und Verfahren legitimiert. Die Gewaltentrennung der Demokratie ist institutionalisiertes Misstrauen. Keine Macht ohne Gegenmacht, die sie begrenzt. Keine Demokratie ohne Debatten über Medientycoons, Meinungsmacher, Manipulationspotenzial, die Berlusconis dieser Welt. Die Gedanken und Meinungen müssen frei sein; ihre professionellen Ver- und Bearbeiter sind Menschen, die für die diabolische Qualität der Macht anfällig sind wie Minister oder Wirtschaftsführer. Trotzdem steht über der vierten Gewalt keine fünfte, die ihre Macht konterkariert.

Denn Öffentlichkeit ist von urdemokratischer Eigenart. Freie Gesellschaften leben ganz selbstverständlich mit dem Anspruch auf Offenlegung allen Tuns und Unterlassens der Machtinhaber. Ob wir wirklich alles wissen müssen und wollen, war bisher eine müßige Frage. Denn dieses „alles“ war ja nur theoretisch möglich. Dass Wikileaks und ähnliche Plattformen das allgemeine Postulat zur praktischen Wirklichkeit machen könnten, schon die Suggestion der Möglichkeit verändert die Verhältnisse. Das ist die neue Qualität, die alle Aufregungen und Begeisterung über die Wikileaks-Enthüllungen erklärt.

Deshalb unterschreitet der „Guardian“-Kommentar, dass es nicht der Job der Medien sei, die Mächtigen vor Peinlichkeiten zu schützen, die tatsächliche Herausforderung an den professionellen Journalismus, ob aus den Holz- oder den Netzmedien, dramatisch. Typisch für eine Branche, die es sich mit ihrer öffentlichen Verantwortung leicht macht.

Dass die Medien auf die Peinlichkeiten von Politikern längst viel schärfer sind als auf Politik, ist den Bürgern der westlichen Länder bis zum Überdruss bekannt. „Wir glauben alle an die Idee, dass Informationen öffentlich gemacht werden sollen, weil das zu einer transparenteren Regierungsarbeit und somit zu einer besseren Gesellschaft führt“, sagt Openleaks-Sprecher Herbert Snorrason. Wer würde daran nicht gern glauben! Aber wie Wahrheit wirkmächtig wird, darauf muss das Internet seine Antwort erst finden. Seine Aktivisten mobilisieren naive Hoffnungen, weil die Glaubwürdigkeit der alten Medien so verbraucht ist.

Snorrason hat Assange den Rücken gekehrt. „Verpiss dich, wenn du ein Problem mit mir hast“, soll der zu Snorrason gesagt haben. Openleaks schwebt ein sicherer Netz-Briefkasten vor, in den jeder seine Dokumente werfen und selbst bestimmen kann, wer sie veröffentlicht. Noch diese Woche, spätestens aber im Januar soll diese Plattform starten.

Die Internetaktivisten sind durchweg jung. Assange hat genug Erfahrung mit früheren Veröffentlichungen gesammelt, um zu wissen, dass sich im Netz, anders als in Zeitungen, zwar alles veröffentlichen lässt, aber auch alles verloren gehen kann. Die Zusammenarbeit von Wikileaks mit den Holzmedien ist vorerst nur die Kombination der Kinderkrankheiten des Internets mit den Alterserscheinungen des klassischen Journalismus. Der kann stets definieren, wofür er nicht zuständig ist, fragt aber viel zu lange nicht mehr: Wofür sind wir denn verantwortlich, in einer demokratischen Arena, der die Zuschauer und Mitmacher weglaufen?

Sie laufen, unter anderem, ins Internet, nur eine Minderheit aber zu den Foren, die sich mit den öffentlichen Angelegenheiten beschäftigen. Assange, Wiki- oder Openleaks leben von der Verheißung der totalen Offenheit, die verlockt, weil das politische Personal als schwach und schlecht angesehen wird. Wollen wir alles wissen? Die Frage muss gestellt werden, wenn totale Offenheit möglich wird. Meine Antwort lautet ganz entschieden Nein, weil sie, siehe Peinlichkeiten, jede Form von Machtausübung latent delegitimiert. Schade wäre das nicht wegen der Politiker, sondern wegen der Demokratien, die, nebenher gesagt, unseren Globus leider nicht dominieren.

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